Stellungnahme zum Schlussbericht des Ad-hoc-Ausschusses des Europarats

1. Der Ad-hoc-Ausschuss hat den Dialog aufgrund eines eingeschränkten Mandats geführt. Gegenstand des Dialogs waren nicht die neuen Verfassungsnormen oder die Art und Weise ihres Zustandekommens, sondern die verfassungsmässige und politische Praxis seit dem Inkrafttreten der neuen Verfassung im Sommer 2003.

2. Umso bemerkenswerter – weil „nur“ die Praxis und nicht die neue Verfassung zu beurteilen war – sind die Schlussfolgerungen des Berichts. Demgemäss hat im Fürstentum Liechtenstein eine Verschiebung der Machtverhältnisse zwischen dem Fürsten und dem Volk (gesamthaft verstanden als Regierung, Landtag, Medien und Zivilgesellschaft) stattgefunden. Als Resultat dieser Machtverschiebung hat die Macht des Fürsten zugenommen. Die Entwicklung in den konstitutionellen Monarchien der Mitgliedstaaten des Europarats geht dahin, die politischen Befugnisse des konstitutionellen Monarchen einzuschränken und diejenigen der vom Volk gewählten Vertreter auszuweiten. Die Entwicklung in Liechtenstein aufgrund der Verfassungsänderungen von 2003 geht in die entgegen gesetzte Richtung.

3. Da seit den Verfassungsänderungen nur eine kurze Zeit verstrichen ist, kann noch kein endgültiges Urteil darüber gefällt werden, ob der Weg, den das Fürstentum Liechtenstein geht, mit den fundamentalen Normen des Europarats im Einklang steht. Der Dialog ist mit dem Beschluss des Büros der Parlamentarischen Versammlung zwar abgeschlossen, der Europarat behält sich jedoch vor, die weitere Entwicklung genau im Auge zu behalten, wie er dies am Beispiel der weiteren Entwicklung nach der Volksabstimmung zur „Recht auf Leben“–Initiative ausdrücklich festhält. Dieser Standpunkt des Europarats ist für die weitere Ausübung der Befugnisse des Fürsten gestützt auf die neue Verfassung und dessen Beeinflussung der öffentlichen Meinungsbildung von einiger Bedeutung.

4. Bemerkenswert ist auch die Aussage im Schlussbericht, wonach es nicht angehe, im Vergleich der demokratischen Verpflichtungen der neuen Mitgliedstaaten in Zentral- und Osteuropa einerseits und der etablierten Demokratien Westeuropas andererseits doppelte Standards anzuwenden. Mögliche Demokratiedefizite in Mitgliedstaaten Westeuropas dürfen nicht als „Luxusprobleme“ abgetan werden, wenn man sie mit Defiziten in den Staaten von Zentral- und Osteuropa vergleicht.

5. Im Detail werden im Bericht des Ad-hoc-Ausschusses zahlreiche Bedenken zur Verfassungsentwicklung in Liechtenstein geäussert, welche mangels ausreichend langer Verfassungspraxis aber nicht zu einer einheitlichen und einstimmigen Beurteilung führten. So werden von Mitgliedern des Ad-hoc-Ausschusses etwa die starken Rechte des Fürsten bei der Richterbestellung, die Intransparenz der Handlungen von Fürst und Fürstenhaus, das Vetorecht in der Gesetzgebung, das Notverordnungsrecht des Fürsten oder das jederzeitige Recht der Regierungsentlassung kritisch beurteilt.

6. Der Schlussbericht des Ad-hoc-Ausschusses hat die bisherigen zwei offiziellen Berichte der Institutionen des Europarats zur Entwicklung in Liechtenstein seit dem Beginn des Abstimmungskampfes zur neuen Verfassung im Jahre 2002 akribisch aufgeführt und zu wichtigen Basisdokumenten erklärt. Es sind dies der Bericht der Venedig-Kommission vom 16. Dezember 2002, aus dem im Schlussbericht sogar zitiert wird, und der Bericht der Berichterstatter Hancock und Jurgens des Monitoring-Ausschusses vom 16. September 2003. Es ist daher festzuhalten, dass sich zusammen mit dem jetzt veröffentlichten Schlussbericht des Ad-hoc-Ausschusses alle drei mit der neuen liechtensteinischen Verfassung und Verfassungspraxis befassten Institutionen des Europarats mit klaren Worten und kritisch zum Weg geäussert haben, den das Fürstentum Liechtenstein mit seiner neuen Verfassung eingeschlagen hat.

1. Juni 2006 (b)