Direkte Demokratie kann lästig sein

Ein Volk, das die Möglichkeit hat, per Volksinitiative die Verfassung zu ändern, macht noch so gern Gebrauch davon: In Liechtenstein sind die Stimmberechtigten in den letzten 90 Jahren über 100 Mal an die Urne gegangen und haben dabei auch regel mässig Verfassungsänderungen gutgeheissen.

Wörtlich, aus dem Griechischen übersetzt, wird von der «Herrschaft des Volkes» gesprochen, wenn von der direkten Demokratie die Rede ist. Im Gegensatz zur parlamentarischen Demokratie, wie sie die meisten europäischen Staaten kennen, ist Liechtenstein zusammen mit der Schweiz eines jener wenigen Länder, die dem Volk umfassende direktdemokratischen Rechte zugestehen. 1921, als im Fürstentum die heute noch gültige – aber mehrfach abgeänderte – Verfassung in Kraft getreten ist, wurden dem Liechtensteiner Volk mit Initiative und Referendum zwei wichtige politische Instrumente in die Hand gegeben. Fortan waren es nicht mehr allein Regierung und Landtag sowie der Fürst, welche im Land das Sagen hatten, jetzt konnte auch das «einfache Volk» in
für ihn wichtig erscheinenden politischen Fragen ein entscheidendes Wort mitreden. «Die Staatsgewalt ist im Fürsten und im Volke verankert», heisst es in Artikel 2 der Liechtensteiner Verfassung.

Stimmbürger wichtige Mitspieler

Seit 1921 sind in Liechtenstein 35 Volksinitiativen lanciert worden. Zudem kam es zu Volksabstimmungen aufgrund von 25 Referenden und 42 Landtagsbegehren. «Wichtiges und weniger Wichtiges wurde da vom Volk gutgeheissen oder abgelehnt»,
sagt ein Liechtensteiner Verfassungsrechtler. «Das Entscheidende war immer, dass das Volk jederzeit die Möglichkeit hatte, mit Hilfe der Volksrechte frei und ungehindert seinen Willen auszudrücken und so politische Reformen in die Wege zu leiten.» Mit der Verfassung von 1921 sei das Liechtensteiner Volk politisch mündig und zu einem wichtigen Partner im politischen Prozess geworden.

Volk stellt Weichen für die Zukunft

Die Volksrechte waren in Liechtenstein nie toter Verfassungsbuchstabe: Über 100 Mal ist das Volk in den letzten neun Jahrzehnten an die Urne gegangen und hat dabei zum Teil wichtige Weichen für die Zukunft des Landes gestellt. In jüngerer Zeit zählten dazu: die Einführung des «doppelten Ja» bei Volksabstimmungen (1987), die stärkere Kontrolle der Justizverwaltung (1989) oder die Einführung des Staatsvertragsreferendums (1992), die alle auf Volksinitiativen zurückzuführen waren. Das Frauenstimmrecht (1984), zwei EWR-Abstimmungen (1992 und 1995) oder die Lockerung der Einbürgerungsbestimmungen (2000) waren Landtagsbegehren, die danach vom Volk gutgeheissen wurden.

Der Preis der Volksinitiative

Umgekehrt trat das Volk immer wieder als Korrektiv zum Parlament auf und verwarf Landtagsbegehren wie eine Steuergesetzrevision (1990) oder das Raumplanungsgesetz (2002). Oder es verhinderte mit Hilfe des Referendums den Bau eines
Landtaggebäudes mit Regierungsviertel (1993), eines Sicherheitszentrums (2004) oder den Neubau des Landesspitals (2011).

«Die direkte Demokratie kann für die Regierenden manchmal lästig und unangenehm sein», hat der bekannte Schweizer Staatsrechtler Thomas Fleiner seinen Studenten einmal gesagt, «aber das ist letztendlich der Preis, den die Mächtigen im Land für das wertvolle Instrument Volksinitiative bezahlen müssen.»


Sachbezogene Diskussion

Liechtenstein verfügt über ein politisches System, das stark von direktdemokratischen Elementen geprägt ist. In Deutschland, Frankreich, Italien oder Österreich ist die Mitsprache des Volkes weniger ausgeprägt. In jüngster Zeit ist teilweise aber auch in diesen Ländern – in Ergänzung zum repräsentativ-parlamentarischen System – die direkte Bürgerbeteiligung ausgebaut worden. «Direktdemokratische Verfahren ermöglichen den Bürgern eine themenspezifische Partizipation», ist sich die Wissenschaft heute
weitgehend einig. Die direkte Demokratie trage zur Öffnung der Machtstrukturen bei, indem die Eliten einen sachbezogenen Diskurs mit der Bevölkerung führen und diese in ihre Entscheidungen einbeziehen müssen.